Rahmen und Bühne
Schinkel, Höger, Döllgast: William Mann, einer von drei Partnern des Londoner Architekturbüros Witherford Watson Mann, kennt die Baugeschichte und hat sie beim Entwerfen ebenso im Blick wie den jeweiligen städtebaulichen Kontext. Das Büro hat reiche Erfahrungen mit Backsteinbauten. Astley Castle gehört zu den bekanntesten Entwürfen; dem Projekt wurde 2014 der Fritz-Höger-Preis in Gold zugesprochen. 2020 gab es wieder Gold in der Kategorie Büro- und Gewerbebauten für das Brickfields Business Centre im Londoner Stadtteil Hoxton.
Mit England assoziiert man Backstein in vielerlei Facetten: Backstein-Idylle auf dem Land, geklinkerte Reihenhäuser in den Vororten und rote Industriebauten am Stadtrand. Welche Bedeutung hat das Material für Großbritannien, speziell London?
William Mann (WM): Das ist eine sehr tiefe emotionale Verbindung. Man muss dabei auch in die Geschichte schauen: Der Backstein kam auf wegen des Großen Feuers von London 1666, als vier Fünftel der Stadt neu aufgebaut werden mussten. Zusammen mit dem holländischen Einfluss hat das zu einer regional ausgeprägten Bauweise geführt: klassische Proportionen, große Fenster, Wände, die manchmal Säulen gleichen, Harmonie ohne Ornament. In einem Buch über die Architektur der Republik des 17. Jahrhunderts fand ich die interessante Zusammenfassung: Puritanischer Minimalismus. Und zur neueren Geschichte: Wenn ich hier in Ost-London aus dem Fenster schaue, sehe ich 19. Jahrhundert neben frühem und späten 20. Jahrhundert, immer wieder Backstein. Vor allem im Wohnungsbau war und ist Backstein beliebt. Holz oder Putz sieht nach zehn Jahren nicht immer noch gut aus. Wir haben mit einem großen Wohnungsbauunternehmen gearbeitet, dort war man der dauernden Wartungsarbeiten überdrüssig. Sie entschieden sich für die wesentlich einfachere Bauweise in Backstein. Einige sprechen wegen dieser Haltung vom „New London Vernacular“. Wegen der Energiestandards wird Backstein allerdings zunehmend als schützende Haut wahrgenommen, nicht mehr wie bei Schinkel im 19. Jahrhundert als schmückende Schale. Es ist heute eine große Herausforderung, Backstein nicht als reine Hülle zu verwenden. Bei Brickfields haben wir ihn für 21 Zentimeter starke, selbsttragende Wände eingesetzt. Generell aber gilt: Backstein ist wieder beliebt, er besticht durch seine Robustheit, er braucht wenig Pflege. Die Balance zwischen Ökonomie und Dauerhaftigkeit stimmt. Er hat eine emotionale Qualität, ist Zeichen und nicht reines Rahmenwerk.
Das Durchblättern Ihrer Projekte zeigt, dass Backstein auch für Ihre Arbeit sehr wichtig ist. Ein prominentes Beispiel ist Astley Castle.
WM: Das ist richtig. Die Frage bei Astley Castle war nicht so sehr, was wir dort tun durften, sondern, was wir tun mussten, denn die Ruine drohte zusammenzubrechen. Unsere Backstein-Interventionen sind dazu da, die Überreste des Wasserschlosses zu stabilisieren. Wir haben Ziegel verwendet, weil er günstiger ist als Naturstein, aber vor allem wegen seiner Farbe und haptischen Qualitäten. Die unterschiedlichen Strukturen der Oberfläche verdeutlichen sehr schön den Unterschied zwischen Alt und Neu, die Kombination von Kontinuität und Nicht-Kontinuität. Wir überlegen bei den meisten Aufgaben, ob Backstein eine mögliche Antwort ist. Zwei unserer Projekte in London, eines aus den Anfangszeiten unseres Büros und eines aus der jüngsten Vergangenheit, sind einander sehr verwandt: ein Bau für Amnesty International auf einem ehemaligen Klosterareal und das Brickfields Business Centre. In beiden Fällen haben wir „fire clay” verwendet. Das ist ein blaubrauner Stein, der eine sehr harte und leicht reflektierende Oberfläche hat. Für Brickfields wollten wir ein noch weiteres Feld an Farben. Zusammen mit der Reflektionsfähigkeit macht es das Gebäude sehr lebendig, denn die Sonne wandert um das Haus und lässt es bei jedem Licht anders erscheinen. Was mir auffällt und ich zunehmend beachte, ist, wie Gebäude altern. London ist eine schmutzige Stadt, also müssen die Wände geschützt werden. Dafür verwenden wir Mauerabdeckungen, die ein Stück vorstehen – old school also. Und dann eben die harten Ziegel, die nicht unbedingt typisch für London sind, aber ein guter Schutz gegen Nässe und Verschmutzung. Unser Amnesty- Gebäude ist jetzt 16 Jahre alt und noch genauso schön wie zur Fertigstellung. Es ist unglaublich gut gealtert, dank des harten Backsteins.
Ich möchte einen Satz Ihrer Website zitieren: „We expand, reinforce and complement the characteristics of existing spaces with focused and crafted additions.“ Das findet sich beim Spaziergang zu Brickfields auf Google Earth wieder: Sie sehen genau hin, wie Ihre Gebäude mit der Umgebung umgehen; der Backstein ist hier auch eine Reminiszenz an die Nachbarschaft.
WM: Sie haben Recht, und wir sind speziell in dieser Gegend sehr verwurzelt. Ich habe dort zum ersten Mal 1988 gearbeitet. Unser Büro ist zehn Minuten von Brickfields entfernt. Der Amnesty-Bau und Brickfields stehen in benachbarten Vierteln, in Shoreditch und Hoxton, beide sind stark geprägt von Fabriken, Showrooms, Lagerhäusern aus der ehemaligen Möbelindustrie und natürlich von dem Eisenbahnviadukt. Die alte Römerstraße führt hier durch. Daran erkennt man, dass die Architekten des 18. und 19. Jahrhunderts viel über Ur-Städte wie Rom und Venedig nachdachten. Wir tun das auch; natürlich kann man etwa das Echo des Chile-Hauses von Fritz Höger in Hamburg vernehmen. Ist Ihnen an Brickfields die Detailarbeit an den Flächen unterhalb der Fenster aufgefallen, die Korbmuster? Das sieht man auch an Projekten von Egon Eiermann in Berlin. Backstein ist ein universelles Material, mindestens europaweit. Wir bemühen uns Gebäude zu bauen, die lokale, aber auch europäische Bezüge haben.
Brickfields hat beim jüngsten Fritz-Höger-Preis Gold in der Kategorie Büro- und Gewerbebauten gewonnen. Lassen Sie uns über Arbeitsplätze sprechen. Wie hat sich das Arbeiten verändert?
WM: Das Arbeiten geschieht heute kleinteiliger, flexibler, fließender, ortsungebundener – ein Trend, der natürlich durch die Pandemie enorm verstärkt wurde. Im Moment gibt es sehr viel Platz in den Büros. Die Menschen kommen jetzt zwar allmählich in die Büros zurück, vermutlich aber nicht mehr so regelmäßig und durchgängig wie in Vor-Covid- Zeiten.
Wie muss Architektur reagieren oder anderes: Wie kann Architektur diese Veränderungen unterstützen?
WM: Interessante Frage. Für mich sind Gebäude eigentlich untimely, was Nietzsche unzeitgemäß nennt. Sie reagieren langsam, haben eine problematische Beziehung zur Gegenwart. Weil sich unsere Nutzungsarten und Anforderungen ständig wandeln, brauchen wir Gebäude, die elastisch sind, die nach Bedarf wachsen oder schrumpfen können – aber das widerspricht ihrem Wesen. Damit sich das ändert, muss sofort etwas passieren, und zwar nicht nur physisch, sondern auch politisch. Die Freude, Architekt zu sein, kommt auch daher, dass die Effekte von Veränderungen eher indirekt geschehen, man beobachtet und reagiert dann. Es ist interessant zu spekulieren – gerade große, immer dichtere Städte brauchen Ideen, beispielsweise gemischtere Lebensformen und weniger Pendelei zwischen Arbeits- und weit außerhalb liegenden Wohnorten. Was uns zum Hauptproblem der Metropolen führt: die überteuerten Bodenpreise. Aber es gibt interessante Überlegungen zur Polyzentralität. Warum etwa nicht auch in den Vororten Fabrikareale verdichten, reparieren und Arbeitsplätze anbieten? Wir haben dazu gerade eine Studie gemacht.
Wie beurteilen Sie die sozialen Veränderungen, die der Umbau, die Umnutzung und Aufwertung von Stadtarealen mit sich bringen? Nicht alle sehen das positiv.
WM: Städte ändern sich nun mal, das kann man nicht aufhalten. Sie kennen Ebenezer Howard, und ich meine jetzt nicht seine gestalterische, sondern seine politische Rolle. Er war Anarchist und stellte die Bodenpreise und Verteilung von Grundstücken in Stadtzentren in Frage. An seinem Modell, Stadtzentren zu entflechten und die Stadtränder zu stärken, haben sich die europäischen Stadtplaner lange orientiert. Das ging aber in den 1980er-Jahren zurück; jetzt scheint es kein Gegengewicht mehr zu der magnetischen Macht explodierender Bodenpreise zu geben. Nicht im darwinistischen London, aber auch nicht in anderen europäischen Städten.
Kommen wir noch einmal zurück zu Brickfields. Sie sagen, Gebäude sind eigentlich zu langsam, um adäquat auf sich ändern- de Anforderungen zu reagieren. Aber dieses Haus ist doch eine überzeugende Antwort darauf, was der Bauherr eigentlich ausdrücken wollte?
WM: Vielleicht sollte ich etwas über den Bauherrn erzählen. Work Space sind mit dem Kauf von Industriegrundstücken im gesamten Londoner Stadtgebiet ins Geschäft eingestiegen. Ich möchte betonen, dass sie Langzeitbesitzer sind, also keine Spekulanten, die kaufen, rasch entwickeln und teurer wieder verkaufen. Seit rund zehn Jahren bauen sie jetzt diese neuen Business Centres. Unser Auftrag war, auf dem Grundstück eine moderat verdichtete Nutzung herzustellen, genug, um das Projekt finanzieren zu können, aber ohne einen massiven Einschnitt in der Umgebung vorzunehmen. Heute gibt es auf der Fläche 50 Prozent mehr Arbeitsplätze als zuvor. Wir haben den Altbau abgerissen, aber dessen Fundamente weiterverwendet. Deshalb haben wir uns für eine leichte Stahlkonstruktion entschieden. Das Volumen sollte die Dimensionen vor Ort berücksichtigen, ist deshalb zwischen drei bis sechs Stockwerken gestaffelt; die 90 Meter lange Fassade verläuft geknickt. Ins Innere sollte viel Tageslicht fallen. Die Büroräume rangieren zwischen zwölf und 400 Quadratmetern. Sie liegen um ein Atrium mit Oberlichtern herum. Dieser Lichthof ist mit sechs Metern einschließlich der Laufstege recht schmal, wird aber gut und gerne als informelle Begegnungsfläche und sogar zum Arbeiten genutzt. Dem Bauherrn war bewusst, dass die Menschen dazu neigen, lieber in alten, den heutigen Anforderungen angepassten Gebäuden zu arbeiten. Wir haben also ein zeitgemäßes Haus mit den Qualitäten eines Altbaus gebaut, etwa recht hohe Decken.
In den 98 Einheiten arbeiten sehr verschiedene Berufsgruppen. Gibt es regen Austausch (außerhalb der Pandemiezeiten)?
WM: Ja, es gibt recht viel Interaktion. Die Atmosphäre Von neu zu verwittert: Auch der Backstein schlägt Brücken zum prägenden Material des Londoner Ostens. Der Lichthof hat sich schnell zur informellen Begegnungsfläche entwickelt und wird auch zum Arbeiten genutzt. erinnert an die in einer öffentlichen Bibliothek. Wir haben zunächst auf Akustikelemente verzichtet, und es zeigte sich, dass es ohne gut funktioniert. Denn die Menschen verhalten sich ruhig und rücksichtsvoll dort. Einige arbeiten sogar lieber im Atrium als im Büro.
Was uns wieder zu dem Aspekt bringt, wie Architektur das, was später in ihr stattfindet, unterstützen kann.
WM: Exakt. Ich lasse den Begriff Architektur allmählich aus meinem Wortschatz verschwinden. Gebäude ist konkreter. Gebäude können einen Vorschlag machen, nicht alles bestimmen. Sie sind Rahmen und auch Bühne für ihre Nutzer. Sorgfältig geplant, können sie face-to-face-Kommunikation und ständigen Wandel unterstützen. Das Verständnis dafür, was Gebäude tun, aber auch dafür, was sie nicht leisten können, und zwar konstruktiv und sozial, ist für Architekten fundamental.
Zum Abschluss: Welches Ihrer realisierten Gebäude ist ihr favorisiertes?
WM: Vermutlich ist das Lieblingsgebäude immer das, das als nächstes kommt.