Die Stadt als fragiles Ganzes

Im architektonischen Spannungsfeld der Stadtlandschaft nehmen öffentliche Bauten eine ganz besondere Rolle ein. Welche Faktoren ein gelungenes Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Bauten, zwischen Stadttextur und Wahrzeichen beeinflussen, fand Rudolf Finsterwalder für VORTEILE im Interview mit Álvaro Siza heraus.

Álvaro Siza (li.) und Rudolf Finsterwalder (re.) im Gespräch.

Rudolf Finsterwalder: Die meisten Architekten machen bei der Detailgestaltung einen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Gebäude. In Ihrer Arbeit gibt es einen solchen Unterschied meines Wissens nicht. Stimmt das?

Álvaro Siza: Ja, bei privaten Gebäuden findet ebenfalls ein Dialog mit Menschen statt, vor allem mit der Familie, was wichtig ist und eine Fülle an Details hervorbringt – wenn auch natürlich in einem kleineren Maßstab. Der Unterschied zwischen einem privaten Wohnhaus und einem öffentlichen Gebäude liegt auf der Hand: Das Privathaus ist eine Zelle, die sich ständig wiederholt, doch das öffentliche Gebäude sticht heraus. In der Stadtlandschaft nimmt das öffentliche Bauwerk eine Sonderrolle ein. Es hat einen gewissen Einfluss auf seine Umgebung, die das Wohngebäude nicht hat.

Zumindest in einer Demokratie sind öffentliche Bauten für alle Menschen zugänglich. Das ist jedoch auch schon der einzige Unterschied. Alles andere hängt vom Dialog und vom Programm für den jeweiligen Gebäudetyp ab.

Was halten Sie von Bruno Tauts Konzept der Stadtkrone? Taut vertrat die Ansicht, dass es in größeren Städten ein Bauwerk als architektonischen Mittelpunkt geben müsse, um den herum die Stadt sich organisiert, wie zum Beispiel die Kathedrale von Porto.

Ich kenne diese Idee und finde sie richtig. Sehr häufig dienen öffentliche Bauten aber nicht den notwendigen öffentlichen Interessen. Heutzutage gibt es in vielen Städten eine ganze Menge großer öffentlicher Gebäude – die Situation ist also eine andere. Mir persönlich ist das Gleichgewicht zwischen der Textur einer Stadt und ihren Wahrzeichen wichtig. Wer beispielsweise nach Paris reist, besucht dort nicht die Vororte, sondern die bekannten Bauwerke. Als ich mir die Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin angesehen habe, gefiel mir besonders der öffentliche Raum, den er geschaffen hatte und der sich von den umliegenden Wohngebäuden unterscheidet.

Die Backstein-Pavillons der Hessenwaldschule befinden sich in einem präzise entworfenen Gleichgewicht zwischen eigenständigem Nutzen und zusammengehörigem Ensemble.

Rudolf Finsterwalder: Glauben Sie denn, dass sich das Problem der hohen Komplexität mithilfe der Architektur lösen lässt? Die Bruder-Klaus-Feldkapelle von Peter Zumthor etwa, zeichnet sich ja durch eine reduzierte Architektur aus und kann die Menschen dennoch auf gewisse Weise berühren.

Álvaro Siza: Bevor wir andere Menschen berühren können, müssen wir jedoch erst einmal Kunden berühren. Die  Architektur selbst kann nicht sonderlich viel bewirken. Das ist schwierig und komplex: Vor allem für die Entwicklung von Städten und ihren öffentlichen Bauten braucht es ein gutes Team, das alle Beteiligten zusammenbringt, um etwas Qualitätsvolles zu realisieren.

Es gibt einige Beispiele, wo das funktioniert hat, etwa die Arbeit von Jan Gehl in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Gehl hat die Stadt über viele Jahre von einer autodominierten Stadt in eine Fußgänger- und Fahrradstadt verwandelt.

Ja, irgendwie ist es ihm gelungen, die politische Diskussion über die Stadtentwicklung zu beeinflussen. Teil dieses Erfolgs ist die besondere Situation in diesen Ländern: Es gibt eine starke Wirtschaft und ein sehr soziales, friedliches politisches Klima.

Architektur im Gespräch mit der umliegenden Natur: Die Räume des Siza-Pavillons orientieren sich um den zur Landschaft hin geöffneten Innenhof. Er wächst so aus ihr heraus und führt zugleich in die Landschaft hinein.